Die Wirkung und Bedeutung gnostischer Systeme als spätantike Zeiterscheinung, der viele Menschen angehörten, ist nicht zu unterschätzen. Der Einfluß auf die junge christliche Kirche kann von zwei Seiten aus betrachtet werden: Einerseits wurde eine Abgrenzung gegen die Gnosis vollzogen, wodurch natürlich der eigene Standpunkt in theologischen Fragen zur Betonung des Unterschiedes verschoben werden mußte. Andererseits standen die Kirchenväter Clemens von Alexandrien und Origenes der Gnosis nicht ablehnend gegenüber und kultivierten gewissermaßen in der Kirche den Wert von Gotteserkenntis. Es kann ebenfalls davon ausgegangen werden, daß die fast philosophischen Ausführungen und Spekulationen der Gnostiker, z. B. über die Natur Jesu, der christlichen Theologie einen starken Antrieb gaben. Wie auch immer stand die Gnosis an der Wiege der christlichen Theologie, die zu einer klaren Abgrenzung und Stellungnahme gezwungen wurde. Gleichzeitig tauchten immer wieder religiöse Gruppen und Phänomene auf, die in ihrer weltverneinenden Daseinshaltung oder in anderen Grundzügen an gnostische Gruppen erinnern. Gnosis und Manichäismus mögen ihren Reiz auf den antiken religiösen Menschen ausgeübt haben, weil sie Antworten auf grundlegende Fragen geben wollten. Die Frage, woher das Böse gekommen ist und wie es mit Gott, der doch gut sein mußte, in Zusammenhang stünde, wurde dadurch versucht zu beantworten, daß ihm eine klare Existenz als eigenständige Wesenheit, die sich als Gott aufgespielt hatte, zugesprochen wurde. Bei Augustinus dagegen wurde das Böse im Kontrast zum manichäischen Dualismus als Mangel an Gutem erklärt. Betrachten wir unser Jahrhundert, so kann man mehrere Ebenen der Auseinandersetzung mit der mythologischen Gnosis der Spätantike unterscheiden. Aus der wissenschaftlichen und philosophischen Forschung ist sicherlich an erster Stelle noch immer das Werk "Gnosis und spätantiker Geist" von Hans Jonas zu nennen, das 1934 in erster Auflage erschien. Darin werden Begriffe der Heideggerphilosophie für die Aufdeckung der Gnosis als Universalphänomen der Spätantike verwandt. Stichworte sind das "Geworfensein" des Menschen in die Welt, das Gefühl der Angst und des Fremdseins, die Existenz einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Ich und Welt. Ein wissenschaftliches Werk über ein antikes Phänomen, das eine neue philosophische Sprache und Methode anwendet, ist natürlich an sich schon wieder Geistesgeschichte.
Bezogen auf Hans Jonas selbst war diese Arbeit ein Glied in der Kette seines Denkens. Interessant ist die Beobachtung, daß er in seinem preisgekrönten Buch "Das Prinzip Verantwortung" einen der weltverneinenden Gnosis genau entgegengesetzten Standpunkt einnimmt. Die alleinige Tatsache des Seins wird zur Grundlage für die Übernahme von Verantwortung und Gewissen sowie Annahme des Lebens. Eine weitere Ebene stellt die künstlerische Rezeption dar. So wurde z. B. von dem Komponisten Gustav Holst ein alter der Gnosis nahestehender Hymnus aus den apokryphen Johannesakten aufgegriffen und ein eigenwilliges Musikstück geschaffen. In dem Buch "Demian" von Hermann Hesse lassen sich ebenfalls einige Kennzeichen gnostischer Texte finden. Zum Beispiel wird dort der Gott Abraxas genannt, der zur Zeit der Entstehung des Buches in der Wissenschaft grundsätzlich als gnostisch angesehen wurde. Ebenfalls erinnert eine Ausdeutung der neutestamentlichen Szene von den Schächern am Kreuz an den Usus der Gnostiker, ihre eigene Auslegung heiliger Schriften zu entwickeln. Diese Verbindung ist aber nur in allgemeineren Grundzügen zu ersehen, es gibt bis auf den Namen Abraxas keinen direkten Zurückgriff auf gnostische Texte. Kommen wir auf C.G. Jung zu sprechen, so geraten wir in ein schwer überblickbares Feld, da die Ansichten zu seiner Weltanschauung sehr auseinandergehen. Es gibt, so kann aber festgehalten werden, immer wieder Arbeiten darüber, ob sein Weltbild als gnostisch bezeichnet werden könnte, teils wird er sogar direkt ein Gnostiker genannt. Will man das tun, so hat man aber den Begriff Gnosis sehr stark ausgeweitet, das heißt weit über das, was wir als antikes Phänomen vorliegen haben. Einige Bezüge lassen sich aber objektiv feststellen. Jung griff in seinen Forschungen zu mythischen Vorstellungen und Archetypen auf viele Kulturkreise zurück. Geht man seine Bücher durch, so findet man immer wieder auch Bilder, Textstücke oder Gedanken aus dem Bereich der antiken Gnosis. Ob es antithetische Textpassagen aus gnostischen Schriften sind, auf die man plötzlich im Foccaultschen Pendel von Umberto Eco stößt, oder ob es in populären Büchern über Jungsche Psychologie das Bild von der Schlange ist, die sich in den Schwanz beißt – die Gnosis, in deren Bereich auch der Manichäismus gehört, bot immer wieder einen heimlichen Reiz, der nicht nur Wissenschaftler anzog.
Überarbeitete Version vom Februar 2010.
Der gleiche Artikel befindet sich auf der Internetseite des Institutes für Ägyptologie und Koptologie in Münster.
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